
In einer Zeit, in der Lamborghini vor allem mit dem Urus, dem Bestseller der Marke, in Verbindung gebracht wird, ist es fast schwer vorstellbar, dass der italienische Hersteller jemals ernsthaft eine viertürige Limousine mit einem V10-Saugmotor in Erwägung gezogen hat. Und doch war Lamborghini Ende der 2000er Jahre mit einem heute fast vergessenen Modell - dem Estoque - ganz nah dran, seine eigene DNA auf den Kopf zu stellen.
Schon vor dem Urus träumte Lamborghini von vier Türen
Entgegen der landläufigen Meinung wartete Lamborghini nicht auf das Zeitalter der SUVs, um über vielseitigere Modelle nachzudenken. Bereits in den späten 1970er Jahren wagte sich die Marke mit dem LM002 über die ausgetretenen Pfade hinaus. In den 2000er Jahren blieb das Angebot von Lamborghini jedoch strikt auf zweitürige Supersportwagen beschränkt. Damals hatten die Käufer der Marke nur die Wahl zwischen dem Gallardo und dem Murciélago. Zwei radikale, spektakuläre Autos, die sich jedoch kaum für den täglichen Gebrauch eigneten. Dennoch wusste Lamborghini genau, dass seine Kunden bereits mehrere Fahrzeuge besaßen, häufig SUVs und Luxuslimousinen - allerdings bei der Konkurrenz. Genau diese Erkenntnis führte zu einem gewagten Projekt.
Der Estoque - ein Lamborghini wie kein anderer
Der Lamborghini Estoque, der 2008 vorgestellt wurde, unterscheidet sich sofort von allem, was die Marke bis dahin angeboten hatte. Mit einer Länge von fast 5,15 Metern und einem Radstand von fast drei Metern hat er eine niedrige und schlanke Silhouette mit einer Höhe von nur 1,35 Metern. Trotz seiner vier Türen behält der Estoque die typischen Proportionen eines Lamborghini bei: flache Motorhaube, straffe Flächen, schmale Fenster und ein muskulöses Heck. Optisch verleugnet das Auto nichts von der DNA von Sant'Agata Bolognese. Es sieht aus wie ein gestreckter Supersportwagen, der auf vier Passagiere zugeschnitten ist, ohne dabei auf Aggressivität oder Sportlichkeit zu verzichten.



Im Innenraum ist das Ambiente ebenso markentreu. Das Design übernimmt die Codes des Gallardo und des Murciélago, aber mit vier echten Sportsitzen. Lamborghini verspricht ausreichend Platz für Erwachsene auf den Rücksitzen und einen Kofferraum, der mehrere Golfbags aufnehmen kann - ein Detail, das die Zielgruppe verrät.

Eine V10-Limousine mit 550 PS
Was den Estoque besonders faszinierend macht, ist natürlich seine Mechanik. Unter der langen Motorhaube hatte Lamborghini den berühmten V10-Saugmotor des Gallardo in der 5,2-Liter-Version vorgesehen. Mit rund 550 PS und fast 400 Nm Drehmoment versprach die viertürige Limousine eine Leistung wie ein Supersportwagen, mit einer geschätzten Höchstgeschwindigkeit von fast 320 km/h.

Ein Projekt, das dem falschen Timing zum Opfer fällt
Bei seiner Vorstellung schien jedoch alles darauf hinzudeuten, dass der Estoque ernsthaft für die Produktion in Betracht gezogen wurde. Doch ein Jahr später gab Lamborghini offiziell bekannt, dass das Projekt eingestellt wurde. Im Nachhinein betrachtet gibt es mehrere Gründe für diese Entscheidung. Zunächst einmal der wirtschaftliche Kontext. Der Estoque kam kurz vor der weltweiten Finanzkrise 2008 auf den Markt - eine besonders heikle Zeit, um ein so riskantes Modell auf den Markt zu bringen. Zweitens schien der Volkswagen-Konzern, der Eigentümer von Lamborghini, von der Idee einer so exklusiven Sportlimousine nicht ganz überzeugt zu sein. Jahre später erklärte der CEO von Lamborghini, dass das Design, insbesondere in Verbindung mit dem sehr langen Radstand, noch zu viel Entwicklungsarbeit erfordere. Eine technische Rechtfertigung, die wahrscheinlich eine eher strategische Realität verschleiert.

Warum der Urus letztlich alles verändert hat
Anstelle des Estoque brachte Lamborghini einige Jahre später ein völlig anderes Projekt mit vier Türen auf den Markt: den Urus. Ein SUV, angetrieben von einem V8-Biturbo, der schnell zum meistverkauften Modell in der Geschichte der Marke werden sollte. Im Nachhinein lässt sich diese Entscheidung nur schwer bestreiten. Der Markt hat deutlich gezeigt, dass Luxus-SUVs zu den wahren finanziellen Stützen der Luxushersteller geworden sind. Porsche hatte dies mit dem Cayenne bewiesen. Im Gegensatz dazu haben Sportlimousinen von Prestigemarken selten den erhofften Erfolg gehabt.

Bis heute bleibt der Lamborghini Estoque ein faszinierendes "Was wäre wenn". Eine alternative Vision dessen, was die Marke hätte werden können, mit einer V10-Limousine, die es mit den besten Sportstraßen der Welt aufnehmen kann und dabei ihre radikale Identität bewahrt.